Living History, der Mittelaltermarkt und das Lagern im Zelt
In der Sommersaison sieht man sie inzwischen in fast jeder Gemeinde irgendwann einmal: die „mittelalterlichen Lager“ während eines „mittelalterlichen Marktes“.
Betrachtet man jetzt das, was uns die Quellen überliefern, gab es über die gesamte Spanne des Mittelalters und auch schon davor das, was wir heute unter „Markt“ verstehen. Also Stände – seien sie in ein Haus eingebaut oder extra aufgebaut, oder es wurde direkt vom Karren herunter verkauft. Verkauft wurde alles Mögliche; Obst, Gemüse, Gebäck, handwerkliche Artikel, Stoffe, Tiere lebend und tot, …
Soweit kein Problem. Solche Märkte fanden vermutlich nur ein- oder zweimal im Jahr statt, ähnlich den heutigen traditionellen (Jahr-)Märkten. Ein „Rahmenprogramm“ mit Musik, Spiel und Tanz kann man sich auch vorstellen.
Interessanter wird es bei den Zeltlagern. Aus „Spaß“ im Sinne von Camping wird wohl erst in neuerer Zeit gelagert. Davor war das Übernachten draußen, ob nun im Zelt oder einer schnell gebauten Unterkunft eher kein Spaß, weil durchaus gefährlich. Man sah zu, dass man bei Einbruch der Dunkelheit ein festes Haus erreichte, und wenn dieses Haus nur eine Scheune war. Auf jeden Fall ein Gebäude mit hoffentlich festen Wänden und hoffentlich dichtem Dach. Wer schon einmal Trekking in Gegenden machte, in denen es noch Wölfe, Großkatzen und/oder Bären gibt, weiß wovon die Rede ist. Nicht eingeladene zweibeinige Gäste können möglicherweise genauso lästig werden.
Auf das Mittelalter und speziell das Hochmittelalter bezogen gab es Gelegenheiten, bei denen Menschen im Zelt lebten. Diese Menschen waren aber fast ausschließlich Adelige – nämlich bei Feldzügen, bei denen die „höheren Chargen“ im Zelt unterkamen. Der gemeine Fußsoldat musste zusehen, wie er durch die Nacht kam. Auf einer Darstellung aus dem Spätmittelalter kann man mit Schilf oder etwas ähnlich aussehendem bedeckte einfache Unterstände sehen. Die Darstellung zeigt eine Belagerung, also keine Übernachtung während eines Marschs. Ebenfalls adelig waren Gäste, die bei Großveranstaltungen in Zelten untergebracht wurden, weil in der Stadt beim besten Willen keine standesgemäße Unterkunft mehr zu finden war. Auch in diesem Fall musste das gemeine Volk zusehen, wo es unterkam. Man kann sich vorstellen, dass Zofen und direkte Diener ebenfalls im Zelt schliefen, aber auch diese waren schon von höherem Stand.
Will man nun Living History betreiben, also das möglichst präzise Nachstellen einer kurzen Zeitspanne in der Vergangenheit, gerät man zwangsläufig in einen Gewissenskonflikt. Weil eigentlich entspricht es nicht der damaligen Realität, ein oder mehrere Zelte aufzustellen, mit einem Tarp dazwischen, unter dem man sich tagsüber aufhält. Mag sein, man ist ein einer großen Gruppe und jemand stellt einen Adeligen dar. Dieser Adelige darf ein Zelt besitzen, das natürlich auch entsprechend ausgestattet sein muss. Der Adelige hat aber auch seine Diener und Knechte und Mägde. Wo schlafen die? Und selbst dann würde man eine höchst seltene Gegebenheit nachstellen – siehe weiter oben. Tatsächlich wird dieser Adelige – je nach Stand – auf seinem Gut, auf seiner Burg gelebt haben. War er auf Reisen, kam er und sein Tross auf anderen Gütern und Burgen unter. Sprich: in Häusern, nicht in Zelten.
Nun kollidieren also Anspruch mit Umsetzbarkeit. Natürlich könnte man in einem großen PKW-Anhänger oder einen Transporter so etwas wie einen Hütten-Bausatz transportieren und diesen vor Ort aufbauen. Diese Hütte sollte dann aber schon so aussehen wie damals, mit Lehmgefachen und Schindel- oder Strohdach. Und groß genug, um eine Feuerstelle, Schlafstätten und eine oder zwei Truhen unterzubringen. Ist theoretisch möglich. Interessant wäre hier die deutschen Gesetze, was Bauwerke mit offenen Feuerstätten angeht …
Die einzig wirklich praktikable Möglichkeit ist, nur auf Veranstaltungen zu gehen, die kein Zelt erfordern. Also auf eine Burg, in ein Museumsdorf. Kann man vor Ort nicht übernachten, sucht man sich außerhalb was Neuzeitliches wie ein Hotel oder pennt abseits im modernen Zelt. Es gibt einige LH-Darsteller, die diese Möglichkeit praktizieren. Dadurch findet man sie auf zwei oder drei Veranstaltungen im Jahr, sofern sie nicht an manche Orte mehrfach gehen oder international unterwegs sind. Denn solche Veranstaltungsorte sind ziemlich rar.
Die Aussage einiger LH-Darsteller ist demzufolge: wer „lagert“ und nicht die Bedingungen wie oben beschrieben erfüllt, ist nicht „A“, weil es solche Lager nicht gab. Gibt es bei diesem Lager gar noch einen Markt, dann sowieso nicht.
Würde man dies konsequent umsetzen, würde sich die Szene noch weiter aufspalten wie ohnehin schon: es würde das reine „Marktmittelalter“ mit dem bekannten (Nicht-)Niveau geben und LH-Veranstaltungen in oder im direkten Umfeld von festen Gebäuden. Dazwischen: nix.
Die Frage – völlig abseits von realistischer Umsetzung – ist: wollen wir das? Wo erreichen wir die Menschen? Wieviele geeignete LH-Veranstaltungsorte gibt es denn für Mittelalter-Darsteller? Natürlich kann man sagen „Hey, belebbare – d.h. für Publikum offene Burgen stehen doch genug rum!“. Dann wäre die Aufgabe, deren Besitzer davon zu überzeugen, ihre Burg mindestens 1x/Jahr für eine hochkarätige Veranstaltung herzugeben.
Derweil werden wir unser Lager so erklären, dass das, was der Besucher dort sieht, der Einrichtung eines einfachen Hauses entspricht: Feuerstelle, Sitzgelegenheit, Schlafstelle, Truhen. Nur eben in einem Zelt bzw. davor unter dem Tarp. Und nicht in einem Haus.